Das Leben meiner Ahnen

Es ist gar nicht so schwer herauszufinden, wie meine Ur-Ur-Ur-Großeltern hießen, wann sie geboren und wann sie gestorben sind. Aber was weiß ich dann über sie? Ein Feature über Familienforschung.
Zur Sendungsseite…

produziert von Bayern 2, Zeit für Bayern
Feed-Icon Podcastfeed

Der Abschaum von Paris

Vernon Subutex versucht den Anschein zu wahren. Obwohl er vor ein paar Wochen ein Obdachloser geworden ist, will er nicht aussehen wie ein Loser. Er kommt bei Freunden unter, dann bei ehemaligen Freunden, schließlich bei zukünftig ehemaligen Bekannten: bei einem prügelnden Ehemann, einer ehemaligen Pornodarstellerin, einem Investmentbanker. Die Geschichte eines Abstiegs in der Pariser Gesellschaft, die egal ob ganz oben oder ganz unten, überall widerwärtig ist. Kapitelweise wechselt die Erzählperspektive. Despentes steckt den Leser in die Haut der abstoßendsten Gestalten, die immer entweder sich selbst verachten, die Gesellschaft oder beides.

Buchcover ›Das Leben des Vernon Subutex‹Ich frage mich, ob man Das Leben des Vernon Subutex als Roman bezeichnen darf. In ihrer Vernon-Trilogie erzählt die französische Autorin Virginie Despentes, wie der ehemalige Plattenladenbesitzer sich durchschlägt, nachdem er aus seiner Wohnung fliegt. Wobei sie gar nicht so viel davon erzählt. Der Plot auf den knapp 400 Seiten des ersten Bandes ist überschaubar. Statt einer Abfolge von Aktionen malt Despentes eher ein Gemälde der Pariser Gesellschaft. Das Leben des Vernon Subutex liest sich deshalb fast wie eine Kurzgeschichtensammlung mit einer rahmenden Meta-Erzählung. Gestört hat mich das kein bisschen.

»Sich verändern heißt immer einen Teil von sich zu verlieren.« Despentes’ Charaktere haben sich verändert. Sie blicken verbittert auf ihr Leben. Sie scheinen alle ausgerechnet den guten und hoffnungsfrohen Teil verloren zu haben. Ein derbes Buch für das kleine Abkotzen zwischendurch.

Virginie Despentes – Das Leben des Vernon Subutex, Köln 2017, 398 Seiten.

In Deinen Mund gedacht

Als Kind war ich gefangen in der Virtual Reality. Die quadratischen Pflastersteine des Gehwegs waren entweder sichere Stege oder auf keinen Fall zu betreten – je nachdem ob sie hellgrau oder bläulich dunkelgrau waren. Wovon die Gefahr ausging – waren es Krokodile? – ich weiß es nicht mehr. Fest eingeprägt hat sich bei mir aber, die hellen Steine zu überspringen oder einen Umweg in Kauf zu nehmen, damit meine Sohlen auch ja nur die dunklen Steine berühren.

Buchcover "Nachts die Schatten" von Helwig ArenzKinderphantasien sind toll, weil es niemandem etwas ausmacht, dass sie objektiv unwahr sind. Nachts die Schatten von Helwig Arenz ist toll, weil es nichts ausmacht, wenn die Erzählerstimme plötzlich
offensichtlich Unwahres berichtet. Die Übergänge zwischen Real- und Phantasiewelt sind sogar die besten Stellen des Romans.

Georg ist ein Pubertierender. Er ist ein stiller, ein unsicherer Jugendlicher. Er entdeckt seine Sexualität, hat mal hilfreiche, mal anstrengende Brüder und seine Eltern sind seltsam – klassische Coming-of-Age-Themen. Mich hat nicht sosehr der Plot gefesselt, sondern eher einzelne Szenen. Als zum Beispiel der Vater einen Gedanken in den offenen Mund der Mutter hineindenkt. Oder als Georg mit dem Auge scharfstellt und mit dem Herz abdrückt. Michel Gondry mit seinen extravaganten Kulissen und Requisiten wäre der richtige, um diesen Roman zu verfilmen.

Ein Roman mit viel Feingefühl, ein guter Beobachter der menschlichen Unsicherheiten. Über die ein oder andere Länge muss man hinweglesen. Aber das gelingt.

Soll ich jetzt noch erzählen wie ich Gedankenphotos schieße? Ein andermal vielleicht.

Helwig Arenz – Nachts die Schatten, Cadolzburg 2017.