Schlagwort-Archiv: Rezension

Zu laute Gedanken

The audio interview with Daniel Clowes  is in english. You can ignore the german text,  scroll down and hit play.

Die Story ist recht alltäglich: Marshall – nicht mehr ganz jung, noch nicht ganz alt – hat ein Date. Die Story Das Buchcover von "Mister Wonderful" von Daniel Clowesist alltäglich, aber die Erzählung ist mitreißend und ausgetüftelt bis in die Umschlaginnenseiten.

Mehrere Erzählebenen, die sich in verschiedenen Zeichenstilen spiegeln, verborgene Details an den Bildrändern und eine Komposition mancher Seiten, die den Erzählrhythmus so gründlich durchschüttelt, das mich die Comicbilder stärker in ihre Welt hineingesogen haben als so mancher Kinofilm  – Mister Wonderful von Daniel Clowes ist ein unscheinbar dünner grafischer Roman, der sich zwar schnell liest, der sich aber nicht einfach so mir nichts dir nichts wegliest.

Besonders bemerkenswert ist der grafische Einsatz der Schrift, nicht nur, aber besonders dann, wenn Marshalls innere Stimme so laut ist, dass sie die Dialoge in den Hintergrund drängt. Im übertragenen, wie im wörtlichen Sinne.

Mister Wonderful ist vor einigen Wochen auf Deutsch erschienen. Ich habe mit dem Autor Daniel Clowes telefoniert.

Daniel Clowes – Mister Wonderful, Berlin 2015.

Versteckspiel mit J.

Das Buchcover von Will Selfs Roman LeberknödelMit herzlichen und herzlosen Worten widmet sich Will Self in seinem neuen Roman Leberknödel dem Wert des Lebens mit Krankheit und der Ethik der Sterbehilfe. En passant bemerken Protagonistin und Lesende Parallelen zum Lebensweg eines großen irischen Autors. Oder nicht. Rezension.

Wer James’ Spuren weiter folgen möchte, findet in in diesem Essay weitere Ansatzpunkte.

Danke an Moritz Hartmann, der dem Roman seine Stimme geliehen hat.

Will Self – Leberknödel, Hamburg 2015.

Ein Buch als Begleiterscheinung – Der Fotograf

Er kannte ihn eher flüchtig. Er wusste, er ist Photgraph, ist regelmäßig im Ausland, in Krisengebieten. Und eines Nachmittags bat Emmanuel Guibert seinen Bekannten Didier Lefèvre, ihm von einer seiner Reportagereisen zu erzählen. Ausführlich.

Das Buchcover von »Der Fotograf«1986 begleitete der 29-jährige Didier als Photoreporter eine Truppe von Ärzte ohne Grenzen nach Afghanistan. Sein Auftrag: die ärztliche Arbeit dokumentieren. 130 Filme verschoss er. Die Kontaktabzüge breitete er an besagtem Nachmittag vor Emmanuel Guibert aus. Guibert ist Comiczeichner und dieses Treffen der beiden Männer das erste einer langen Reihe.

Lefèvres Afghanistan-Mission ist, über 15 Jahre später, zur Comic-Reportage geworden. Der Fotograf ist kürzlich als deutsche Gesamtausgabe erschienen. Aber Moment mal! Habe ich »Comic« geschrieben? Annäherungsversuch an den Fotografen mit Emmanuel Guiberts Hilfe.

Vielen Dank an Klaus Roth (Sprecher) und Steffi Schremser (Photozählerin).

Didier Lefèvre/Emmanuel Guibert/Frédéric Lemercier – Der Fotograf, Zürich 2015.

Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand – Rezension

»Die Erinnerung«, schrieb Jean Paul, »ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.« Denkste, Jean Paul, denkste!

Sie vergaß PIN-Nummern, wohin sie ihr Brillenetui gelegt hatte. Das kenne wir alle. Doch eines Tages vergisst Jörn Klares Mutter den Weg aus dem Wohnzimmer in ihre Küche. Diagnose: Demenz. Mit dieser Situation müssen nun alle lernen umzugehen: Mutter, Söhne, Enkeltochter, Umfeld. »Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand« dokumentiert Klares Versuch, Demenz zu verstehen und einen passenden Umgang mit seiner Mutter zu finden.

Das Buchcover zu Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fandEr stellt sich Fragen, stellt anderen Fragen, stellt sich infrage. Das Sachbuch ist ehrlich und geht nah, denn es wird klar: von Demenz können wir alle direkt oder indirekt betroffen sein. Viele Forscher meinen, es sei nur eine Frage des langen Lebens bis wir alle entsprechende Symptome zeigten.

Klare konstruiert eine starke Erzählung, in der sich Alltagsbeobachtungen aus den Besuchen bei seiner dementen Mutter, liebevoll zusammengestellte Experteninterviews und Ausschnitte, aus einem Biografie-Interview mit der Mutter, das er zehn Jahre vor der Demenzdiagnose für seine Tochter aufgenommen hat (was für eine grandiose Idee!) abwechseln und ineinanderschieben. Ein Buch, das aufrüttelt und, besonders auf den letzten Seiten, zu Tränen rührt.

Für The Other Side habe ich mit Yannic Hannebohn Jörn Klare zu seinem Theaterstück »Der frühe Hase fängt die Axt« interviewt. Fiktion und Wirklichkeit, Jörn Klare widmet sich beim Thema Demenz beiden Genres. Da es im Radiointerview besonders ums Theater ging, wollte ich an dieser Stelle noch einmal gesondert auf das Sachbuch hinweisen. Eine andere Textgattung, die sich nicht minder spannend liest.

Jörn Klare: Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand. Vom Wert des Lebens mit Demenz, Berlin 2012.