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Ausschnitt aus ›Jein‹ von Büke Schwarz

Ganz klar jein

Seien wir ehrlich, wir Kulturjournalisten lieben Relevanz. Wir lieben es, wenn uns Kunst etwas über Gesellschaft, Politik und aktuelle Themen sagt. Wir lieben das so sehr, dass diese Art Kunst überproportional viel Aufmerksamkeit bekommt. Ist das in Ordnung? Jein.

Mir gefällt, wie Büke Schwarz dem Kulturleben den Spiegel vorhält. In ihrer Graphic Novel Jein erzählt sie von der bildenden Künstlerin Elâ Wolf. Neben Künstlerin und einigem anderen ist Elâ auch Halbtürkin. Und damit muss sie natürlich eine Meinung haben, zu Erdogan, zur türkischen Politik, zum Verfassungsreferendum. Sie muss einfach. Und diese Meinung hat sie dann bitte auch kundzutun: beim Kennenlern-Smalltalk, in Interviews, am besten auch in ihrer Kunst.

Mit gefällt, dass in der Erzählung nur die Farbgebung schwarz-weiß ist. Inhaltlich lese ich Schwarz nuanciert. Ich lese das Buch nicht als Manifest gegen Erdogan, nicht als Manifest gegen Erdogan-Kritiker, gegen Medien, höchstens als Manifest für die Kunstfreiheit. Ich lese es als Geschichte einer Künstlerin, die sich nicht reduzieren lassen möchte auf ihre Herkunft, auf ihre politischen Ansichten. Natürlich will sie das nicht. Aber einfach ist das anscheinend nicht.

Mir gefällt die Bildsprache. Mir gefällt, dass Schwarz ihrer Geschichte viel Raum lässt und nicht jedes einzelne Bild ein zwingender Schritt im Plot ist. Manche Seiten stehen für sich. Und so ist es egal, ob man Jein liest, um seine Relevanzgier zu befriedigen oder auf der Suche nach dem ästhetischen Glück einer gelungenen Graphic Novel. In beiden Fällen bekommt man beides, versprochen.

Büke Schwarz – Jein, Berlin 2020, 230 Seiten.

Der Abschaum von Paris

Vernon Subutex versucht den Anschein zu wahren. Obwohl er vor ein paar Wochen ein Obdachloser geworden ist, will er nicht aussehen wie ein Loser. Er kommt bei Freunden unter, dann bei ehemaligen Freunden, schließlich bei zukünftig ehemaligen Bekannten: bei einem prügelnden Ehemann, einer ehemaligen Pornodarstellerin, einem Investmentbanker. Die Geschichte eines Abstiegs in der Pariser Gesellschaft, die egal ob ganz oben oder ganz unten, überall widerwärtig ist. Kapitelweise wechselt die Erzählperspektive. Despentes steckt den Leser in die Haut der abstoßendsten Gestalten, die immer entweder sich selbst verachten, die Gesellschaft oder beides.

Buchcover ›Das Leben des Vernon Subutex‹Ich frage mich, ob man Das Leben des Vernon Subutex als Roman bezeichnen darf. In ihrer Vernon-Trilogie erzählt die französische Autorin Virginie Despentes, wie der ehemalige Plattenladenbesitzer sich durchschlägt, nachdem er aus seiner Wohnung fliegt. Wobei sie gar nicht so viel davon erzählt. Der Plot auf den knapp 400 Seiten des ersten Bandes ist überschaubar. Statt einer Abfolge von Aktionen malt Despentes eher ein Gemälde der Pariser Gesellschaft. Das Leben des Vernon Subutex liest sich deshalb fast wie eine Kurzgeschichtensammlung mit einer rahmenden Meta-Erzählung. Gestört hat mich das kein bisschen.

»Sich verändern heißt immer einen Teil von sich zu verlieren.« Despentes’ Charaktere haben sich verändert. Sie blicken verbittert auf ihr Leben. Sie scheinen alle ausgerechnet den guten und hoffnungsfrohen Teil verloren zu haben. Ein derbes Buch für das kleine Abkotzen zwischendurch.

Virginie Despentes – Das Leben des Vernon Subutex, Köln 2017, 398 Seiten.

In Deinen Mund gedacht

Als Kind war ich gefangen in der Virtual Reality. Die quadratischen Pflastersteine des Gehwegs waren entweder sichere Stege oder auf keinen Fall zu betreten – je nachdem ob sie hellgrau oder bläulich dunkelgrau waren. Wovon die Gefahr ausging – waren es Krokodile? – ich weiß es nicht mehr. Fest eingeprägt hat sich bei mir aber, die hellen Steine zu überspringen oder einen Umweg in Kauf zu nehmen, damit meine Sohlen auch ja nur die dunklen Steine berühren.

Buchcover "Nachts die Schatten" von Helwig ArenzKinderphantasien sind toll, weil es niemandem etwas ausmacht, dass sie objektiv unwahr sind. Nachts die Schatten von Helwig Arenz ist toll, weil es nichts ausmacht, wenn die Erzählerstimme plötzlich
offensichtlich Unwahres berichtet. Die Übergänge zwischen Real- und Phantasiewelt sind sogar die besten Stellen des Romans.

Georg ist ein Pubertierender. Er ist ein stiller, ein unsicherer Jugendlicher. Er entdeckt seine Sexualität, hat mal hilfreiche, mal anstrengende Brüder und seine Eltern sind seltsam – klassische Coming-of-Age-Themen. Mich hat nicht sosehr der Plot gefesselt, sondern eher einzelne Szenen. Als zum Beispiel der Vater einen Gedanken in den offenen Mund der Mutter hineindenkt. Oder als Georg mit dem Auge scharfstellt und mit dem Herz abdrückt. Michel Gondry mit seinen extravaganten Kulissen und Requisiten wäre der richtige, um diesen Roman zu verfilmen.

Ein Roman mit viel Feingefühl, ein guter Beobachter der menschlichen Unsicherheiten. Über die ein oder andere Länge muss man hinweglesen. Aber das gelingt.

Soll ich jetzt noch erzählen wie ich Gedankenphotos schieße? Ein andermal vielleicht.

Helwig Arenz – Nachts die Schatten, Cadolzburg 2017.

Schwere Leichtigkeit

Vor zwei Jahren, am 7. Januar 2015, saß ich in einem Pariser Kellerraum in einer Pressevorführung des Stephen Hawking-Biopics, als zwei Attentäter in den Redaktionräumen der Satirezeitung Charlie Hebdo elf Menschen töteten und weitere verletzten. Ich kann mich daran erinnern, wie mir als ich auftauchte auffiel, dass vor dem Radiosender Europe 1 ein beachtliches Polizeiaufgebot stand. »Der Präsident ist wahrscheinlich zu Gast«, spekulierte ich im Stillen.

Vor zwei Jahren, am 7. Januar 2015, verschlief die Charlie Hebdo-Zeichnerin Catherine Meurisse. Sie kam zu spät zur Redaktionssitzung. Sie war nicht im Haus, als ihre Freunde und Kollegen getötet und verletzt wurden. Aber verletzt wurden an diesem Tag nicht nur Menschen, die im Haus waren.

Das Buchcover von "Die Leichtigkeit" von Catherine MeurisseCatherine Meurisse beschreibt in ihrem grafischen Essay Die Leichtigkeit was der Anschlag auf Charlie Hebdo mit ihr gemacht hat. Sie erzählt, wie sie an Tag eins nach dem Anschlag dachte, sie würde nie wieder zeichnen. Sie erzählt, wie ihr der Personenschutz gehörig auf den Keks ging oder wie ihr die Therapie half.

In den Tagen nach der Attentat auf Charlie Hebdo standen nicht nur bei Europe 1 Polizisten mit automatischen Gewehren vor der Tür. Auch mein täglicher Weg ins Gebäude von Radio France Internationale führte mich stets an zwei Uniformierten vorbei. Ein besseres Gefühl hatte ich deshalb nicht. Auch nicht, als ich noch Monate später jeden Tag an einer Straßenkreuzung in Straßburg genauso martialisch bewaffnete Beamte passierte, die dort neben einer Synagoge stationiert waren. Es ist eine Floskel geworden aber Frankreich hat sich verändert durch den 7. Januar 2015.

Zumal die Charlie-Attacke nicht das letzte Ereignis war, das das Land schockiert hat. Auf einer Seite der Leichtigkeit steht Catherine Meurisse in der Nähe des Bataclan auf der Straße, auf der es von Blaulichtwägen wimmelt, und denkt: »Willkommen auf meinem Planeten.« Vielleicht ist es tatsächlich die Leichtigkeit, die in Frankreich durch die Terroranschläge verlorengegangen ist.

Doch was man verloren hat, muss man suchen. Das tut Meurisse. Sie lässt sich helfen und leiten von Freunden und von Proust, Stendhal und von der Anmut antiker Statuen. Sie ist auf der Suche nach der Schönheit und findet im Alltag und in der Kunst doch immer nur Metaphern des Massakers.

Ich habe meine Geschichte des 7. Januars 2015. Denn es gibt Ereignisse, bei denen wir uns erinnern wo wir waren, als sie passierten. Weil sie uns betroffen machen. Wie es den wirklich Betroffenen geht, wissen wir deshalb noch lange nicht. Im übrigen weiß ich das nach der Lektüre der Leichtigkeit immer noch nicht. Trotzdem ist dieses Buch ein beeindruckender Einblick in ein Seelenleben nach einem Seelenbeben. Ich finde, es sollte uns Demut lehren, wenn wir von unserer Betroffenheit sprechen. Das Motto Je suis Charlie ist ohne Frage ein Zeichen der Solidarität. Aber der Satz, den damals fast alle in den Mund genommen haben, ist beim Wort genommen auch eine Anmaßung.

Catherine Meurisse – Die Leichtigkeit, Hamburg 2017.

Eine Recherchegeschichte

Als ich letzte Woche vom Start der zweiten Serial-Staffel gehört habe, hat es keine fünf Minuten gedauert, bis die erste Folge auf meinem Abspielgerät war. Und dann… Dann habe ich die Episode nach 10 Minuten pausiert, um erst einmal ein Buch weiterzulesen.

Nicht, weil Serial jetzt so schlecht geworden ist. Es liegt am Buch. Darin sammelt die Autorin – keine Ermittlerin, keine Kriminalreporterin – Fakten oder… ich schreibe besser: Fäktchen und versucht ein möglichst schlüssiges Bild eines Mannes zu zeichnen. Sie erzählt eine Hochstaplergeschichte, wie es im Untertitel steht.

Godot hinter Gittern – BuchcoverErika Tophoven hat Karl Franz Lembke hinterherrecherchiert, einem Gefangenen, der 1953 in einer deutschen Strafanstalt Warten auf Godot übersetzt und auf die Laienbühne gebracht hat. Eine Inszenierung, die es in die Lokalpresse und in Becketts Briefkasten gebracht hat. Beide Männer, Lembke und Beckett, waren offenbar sehr interessiert am Anderen. Beide wollten einander treffen, doch dann hatte sich KFL plötzlich aus dem Staub gemacht und wart von SB nie gesehen.

Untertauchen – ein typisches Muster in Lembkes Biografie. Seine Geschichte als Beckett-Übersetzer und Gefängnisregisseur ist bekannt. Auch Erika Tophoven wurde sie vor vielen Jahren zum ersten Mal erzählt. Aus irgendeinem Grund hat ihr diese Geschichte vor ein paar Jahren nicht mehr gereicht und Tophoven wollte mehr wissen, über Karl Franz Lembke.

In Godot hinter Gittern ist Samuel Beckett nicht mehr als eine Nebenfigur, die nur im Prolog auftritt. Machen wir uns nichts vor: Die Theateraufführung in der Justizvollzugsanstalt ist eine besondere Episode in Lembkes Leben, aber eben nur eine Episode. Viele Jahre seines Lebens war der Wangerooger nämlich recht erfolgreich darin, das Auffliegen einer Lüge und das Absitzen einer Strafe zu vermeiden.

Heiratsschwindler, Grußbesteller, dann vom Untervertreter aufgestiegen zu einer leitenden Stellung bei der UNESCO – wer oder was ist er denn nun? Dr. med. Peter Holstenkamp? Professor Dr. Peter Lensky? Professor Ansorge oder Professor Niedermeier? Er prellt gutgläubige Leute um kleine Summen und große Träume, es scheint ihn nicht zu rühren. Wird er seine Spielchen noch lange so weitertreiben? Zunächst fährt er von Norden wieder gen Süden.

Erika Tophoven ist herumgefahren, hat herumgefragt, Akten gewälzt und abfotografiert. Wen hat der Ganove wann mit welcher Masche um wieviel Geld betrogen? Tophoven rekonstruiert in diesem Buch möglichst vollständig, akribisch und mit einer gewissen intimen Nähe zu Karl Franz Lembke dessen Leben und Gaunern. Etwa als sie sich ihn als eine Romanfigur Hans Falladas vorstellt. Oder als sie so sehr in seinem Kopf steckt, dass sie seiner Lügenlogik folgt und ausruft: »Unsinn, es war doch Professor Lensky von der Universität Greifswald, der Erna B. das Eheglück in Prien versprochen hatte. Jetzt haben wir es mit Professor Dumartin zu tun«.

Was Tophoven an Lembke so fasziniert? Ich bin nicht sicher. Was mich an KFL so fasziniert? Schwer in Worte zu fassen. Warum mich dieses Buch so sehr fesselt? Es ist wohl wie bei Serial: ich weiß nicht, warum ich mich gerade für diesen Menschen so sehr interessieren soll. Aber die Hartnäckigkeit der Recherche und der Ton der Erzählung, die machens.

Erika Tophoven – Godot hinter Gittern. Eine Hochstaplergeschichte, Berlin 2015.

Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand – Rezension

»Die Erinnerung«, schrieb Jean Paul, »ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.« Denkste, Jean Paul, denkste!

Sie vergaß PIN-Nummern, wohin sie ihr Brillenetui gelegt hatte. Das kenne wir alle. Doch eines Tages vergisst Jörn Klares Mutter den Weg aus dem Wohnzimmer in ihre Küche. Diagnose: Demenz. Mit dieser Situation müssen nun alle lernen umzugehen: Mutter, Söhne, Enkeltochter, Umfeld. »Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand« dokumentiert Klares Versuch, Demenz zu verstehen und einen passenden Umgang mit seiner Mutter zu finden.

Das Buchcover zu Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fandEr stellt sich Fragen, stellt anderen Fragen, stellt sich infrage. Das Sachbuch ist ehrlich und geht nah, denn es wird klar: von Demenz können wir alle direkt oder indirekt betroffen sein. Viele Forscher meinen, es sei nur eine Frage des langen Lebens bis wir alle entsprechende Symptome zeigten.

Klare konstruiert eine starke Erzählung, in der sich Alltagsbeobachtungen aus den Besuchen bei seiner dementen Mutter, liebevoll zusammengestellte Experteninterviews und Ausschnitte, aus einem Biografie-Interview mit der Mutter, das er zehn Jahre vor der Demenzdiagnose für seine Tochter aufgenommen hat (was für eine grandiose Idee!) abwechseln und ineinanderschieben. Ein Buch, das aufrüttelt und, besonders auf den letzten Seiten, zu Tränen rührt.

Für The Other Side habe ich mit Yannic Hannebohn Jörn Klare zu seinem Theaterstück »Der frühe Hase fängt die Axt« interviewt. Fiktion und Wirklichkeit, Jörn Klare widmet sich beim Thema Demenz beiden Genres. Da es im Radiointerview besonders ums Theater ging, wollte ich an dieser Stelle noch einmal gesondert auf das Sachbuch hinweisen. Eine andere Textgattung, die sich nicht minder spannend liest.

Jörn Klare: Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand. Vom Wert des Lebens mit Demenz, Berlin 2012.